Das Buch der Richter: Einführung

Das Buch der Richter zieht an und stößt gleichzeitig ab. Nie lässt es gleichgültig: „Es ist wirklichkeitsbezogen, irreführend, primitiv, gewalttätig, kurz, so merkwürdig, dass die Kirche es sich nur mühevoll zu Gemüte führt... Einzig wer zuvor ein Beruhigungsmittel einnimmt, kann während der Lektüre einnicken.“ Die Darsteller sind menschlich, farbenfroh, dramatisch, überraschend, oft eigenartig. Soll man Simson bewundern oder ablehnen? Ist der Mann ein Held oder ein lastervoller Mensch? Jeder Richter wirft sein Maß an Schwierigkeiten auf, und des Lesers Scharfsinn ist angesichts der oft kommentarlosen Tatsachenberichte des Verfassers ständig gefordert. Die häufig als niederdrückend empfundenen geistlichen Lehren und Texthürden entmutigen die Prediger. In der Sonntagsschule dagegen wird das Buch geschätzt, weil die Wesensart gewisser Richter und der Schwung der Erzählung die Phantasie anregen. Darum gehören Gideon und Simson zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Bibel, obwohl das Richterbuch selten einer Predigt zugrunde liegt.

Die Richtererzählungen fesseln Herz und Gemüt, doch gehen sie über unseren Verstand. Trotzdem ist der Text nicht unerforschlich, denn der Autor will verstanden werden. Er verkündet eine Botschaft von größter Wichtigkeit, die nicht nur erfasst, sondern auch beherzigt werden soll. Dieses Werk ist kein in einem Atemzug zu verschlingender Schnellimbiss, es ist ein sorgfältig vorbereitetes Festmahl. Jedes Element wurde aufmerksam ausgewählt und zur Wahrung des Gleichgewichtes im richtigen Zeitpunkt eingebracht. Die reichhaltige Kost muss ruhevoll genossen und verdaut werden.

Dem Leser wird eine Anstrengung abverlangt, die pädagogischen Überlegungen entspringt. Genau wie ein Kind manchmal über einer Rechnung „brüten“ muss, um in Mathematik Fortschritte zu machen, so soll die Lektion im Herzen bewegt werden, damit sie Wurzeln schlagen und Früchte tragen kann. Eine vorschnelle, nicht selber erarbeitete Antwort unterbindet den erzieherischen Prozess. Der Verfasser ist ein ausgezeichneter Pädagoge. Er weiß einerseits mit packenden und abwechslungsreichen Erzählungen die Aufmerk­samkeit zu wecken und zu fesseln. Anderseits zwingt er - mit nackten Berichten, bar jeder weiteren Erklärung - zum Nachdenken. Die geforderte Leistung ist sorgfältig abgewogen, und der Leser bleibt nicht sich selbst überlassen, sind ihm doch verschiedene erklärende Hinweise gegeben: Die beiden Einleitungen (Kap. 1.1‑2, 5; 2.6-3, 6), das Bild des ersten Richters (Kap. 3.7-11) und die Bezugnahmen auf den Geist Gottes bilden sozusagen die Schlüssel zum Buch. Sieht man über diese hauptsächlich zu Beginn des Werkes gegebenen Einzelheiten hinweg, steht man sehr in Gefahr, sich zu irren - genau wie wenn man eine neue Maschine in Gang setzt, ohne zuvor die Gebrauchsanweisung studiert zu haben.

Das Richterbuch will als Ganzes betrachtet werden, halten und stützen sich doch die einzelnen Teile gegenseitig, wie bei einem gut angelegten Bauwerk. Jede Erzählung trägt mit ihrer Besonderheit einen Teil zu seiner Ausgewogenheit und Harmonie bei. Wir werden in unserer Erklärung darum stets versuchen, die einzelnen Abschnitte im Lichte des Gesamtwerkes zu verstehen. Gewisse bisherige Ansichten über die Handlungsweise der Richter werden sich in Frage gestellt sehen. Geht man den Text nämlich als Einheit an, so treten diese Männer aus dem Dunkel der Mittelmäßigkeit und des Kompromisses heraus, in das sie eine sezierende Betrachtungsweise verwiesen hat. Wir sind der festen Überzeugung, daß der Verfasser die Handlungsweise der Richter bejahte. Sie sind Glaubenshelden und Vorbilder für die Gläubigen! Die nachstehenden Erläuterungen sollen dazu anregen, diesem Sachverhalt nachzuspüren, und im Besonderen die Prediger dazu ermuntern, das Werk und seine Botschaft auch von ihren Kanzeln her zu Wort kommen zu lassen.

Die Einführung zum Werk beschäftigt sich vorerst mit dem literarischen Gefüge und dem historischen Hintergrund. Beide Gesichtspunkte sind gleichermaßen wichtig und müssen sorgfältig untersucht werden. Die literarische Betrachtung wirft ein Licht auf die Art der Darstellung, die historische beschäftigt sich mit den damaligen Lebensumständen. Diese Übersicht geht nacheinander den Themen des Buches nach: den Erklärungen, die sein Verfasser gibt; dem Rätselhaften, vor das er den Leser stellt; der Gliederung des Textes; dem redaktionellen Rahmen (Abfassungszeit und Autorschaft); und schließlich den Fragen bezüglich der auseinander gehenden Zeitangaben. Zahlreiche Buchelemente verweisen auf die jüdische Überlieferung, die Samuel als Verfasser dieses Werkes betrachtet. Genauer scheint es nach Einsetzung des ersten Königs geschrieben worden zu sein, zu einem Zeitpunkt, wo sich Saul ausgesprochen schändlich benahm, denn durch die Gegenüberstellung mit den Richtern wird eine unterschwellige Kritik dem Monarchen gegenüber sichtbar (siehe Nachträge: Bezüge auf die Gegenwart S. 445-449).